Wenn Erinnerungen körperlich schmerzen
8. November 2025
Sabine Millius schreibt in der Fachzeitschrift Spiritual Care über biografischen Schmerz im Alter (siehe Link unten).
Frau M. war immer gern unterwegs. Mit Freundinnen wanderte sie, mit ihrem Mann reiste sie ans Meer. Heute lebt sie allein. Viele ihrer Weggefährt:innen sind verstorben, die Beine tragen sie nur noch kurze Strecken. Wenn sie von früher erzählt, glänzen ihre Augen, und es wird spürbar, dass das Erinnern manchmal weh tut. Oft fragt sie sich: «Was wäre gewesen, wenn…?» Es ist kein Schmerz, für den man ein Medikament findet. Es ist der Schmerz eines gelebten Lebens, in dem Verlust, Sehnsucht und Vergänglichkeit ihre Spuren hinterlassen haben.
Solche Erfahrungen stehen im Zentrum eines neuen Fachartikels von Sabine Millius, Fachverantwortliche Gesundheit & Lebensbegleitung am Institut Neumünster der Gesundheitswelt Zollikerberg. Gemeinsam mit Katharina Heimerl und Marina Kojer hat sie in der Fachzeitschrift Spiritual Care (De Gruyter, 2025) über biografischen Schmerz im Alter geschrieben. Der Titel: «Wenn das gelebte Leben schmerzt. Biografischer Schmerz als Ausdruck von existenziellem Leid im Alter(n)».
Der Beitrag beschreibt, wie körperliche, psychische, soziale und spirituelle Dimensionen eng miteinander verflochten sind und wie daraus Total Pain entsteht, ein Schmerz, der den ganzen Menschen betrifft. Im Alter treten solche Empfindungen oft hervor: wenn Beziehungen dünner werden, Kräfte schwinden oder Fragen nach Sinn, Versöhnung und Lebensbilanz drängender werden.
Das Leiden an der eigenen Lebensgeschichte oder am nicht gelebten Leben wird als biografischer Schmerz bezeichnet. Ältere Menschen erleben oft, dass erfahrenes oder selbst verursachtes Unrecht nicht mehr wiedergutgemacht werden kann. Dieser Schmerz ist eng mit Erinnerungen, Bedauern, Sehnsucht und Verlust verbunden und kann sich bis in den Körper auswirken. Der Artikel zeigt, dass biografischer Schmerz existenzielle Themen des Menschen berührt.
Linderung findet biografischer Schmerz dort, wo erzählt und zugehört wird. In Erzählcafés, in seelsorglichen Gesprächen oder in der Begleitung. «Es braucht Menschen, die wirklich zuhören», sagt Sabine Millius. «Achtsamkeit und Zeit sind oft das wirksamste Mittel gegen diese Art von Schmerz.»
Auch Frau M. hat das erlebt. Sie weiss heute: Der Schmerz bleibt, aber er verändert sich, wenn jemand zuhört. So wird aus Erinnern kein Alleinsein mehr, sondern Begegnung.
Weiterlesen:
Assoz. Prof. Katharina Heimerl; Sabine Millius MAS, BSc; Dr. Dr. Marina Kojer (2025). Wenn das gelebte Leben schmerzt. Biografischer Schmerz als Ausdruck von existenziellem Leid im Alter(n). Spiritual Care, De Gruyter. Link zum Artikel (hier klicken)
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